Edwin Kratschmer: Die Doppelhalsgeige
Roman
UND-Verlag Stadtroda 2008, 256 Seiten, 24.90 EUR, ISBN 978-3-927437-33-3

Allenthalben stecke der Mensch in einer "Doppelhalsgeige", signalisiert der Autor und er meint zum einen jenes mittel-alterliche Folterinstrument, in dem streitbare Partner zusammengespannt wurden, so dass sie fortan alle Handlungen nur im Verbund ausführen konnten, wobei der Stärkere, Skrupellosere, das Tun diktierte. Es geht also um das ungleiche Wechselspiel zwischen ICH und DU, in dem oft Grabenkriege und Schlammschlachten ausgetragen werden, Rang- und Ringkämpfe auf Leben und Tod, wo unter dünner Derme Leidenschaften wie Hochmut, Neid, Hass, Gier, Wollust, bruta-ler Egoismus und Terror toben, eben die sieben Todsünden, die das Zusammenleben zuweilen zur Hölle zu machen ver-mögen.
Kratschmer nennt seinen Protagonisten Ernst Fall, er ist ihm also ein Ernstfall, und er steckt ihn gleich zu Beginn in eine Schlammgrube, in der er als Soldat mit dem Messer ums Überleben kämpft, und wir erleben ihn fortan "zu Welte" auf gewundenen Wegen, auf denen er schließlich in den Tod stürzt. Er will gut sein (was immer das auch bedeuten mag) und kann/darf es nicht, denn "die Zeiten sind nicht so". Immer steckt er in einer Doppelhalsgeige.
Als Gefreiter kommt er lädiert an Leib und Seele aus einem Großen Krieg. Er legt sich auf die Couch und will wissen, warum er den großen Schlamassel überlebt hat: Wienurwie hab ich das gemacht? Er setzt seine Erinnerungsmaschine in Gang. Die Erlebnisfetzen stücken sich ihm zu radikaler Selbstentblößung.
Ein zunächst erfolgreiches bürgerliches Leben als Lehrer misslingt. Die Mutter hat ihr Leben beenden lassen. Nach kurzem Glück kommt es zu seinem Feuertod, einem Abgang in Schimpf, da er zur aufkommenden Diktatur keinen Draht findet. Falls Kontrahent dabei ist Twin, der ihm immer wieder zu Vorgesetztem geworden ist, so sehr sich die Zeiten auch gewendet haben. Ihm scheint alles besser geraten, er vermag alle Wetter für sich zu nutzen. Ist dieser Twin nicht ganz und gar Ernst Falls zweites Ich, sein missratenes Spiegelbild, Gaukelbild, seine eigene Karikatur im Bösen? Seine zweite Seele Mephisto? –
Sohn Markus macht sich nach Jahren auf die Suche nach seinen Eltern und erfährt: der Vater hat sich aus der Welt gebrannt, die Mutter wurde aus der Welt geräumt. Er kann deren Tun und Trachten jedoch kaum begreifen und arran-giert sich schließlich mit den Exekutoren.
Drei Generationen haben sich abgelöst, mit ihnen Gesellschaftsformen, aber es kommt zu fatalen Wiederholungen. Denn Kain und Abel liegen sich als Winner und Loser ewig im Clinch, sind Zwillinge in gleicher Doppelhalsgeige, die auch Ge-schichte heißt.
Es sind Albträume aus dem Tollhaus Realität. Dabei gibt es immer wieder Rückgriffe auf das Alte Testament, auf Historie, Kulturgeschichte und Literatur. Das bringt überzeitliche Dimensionen ein. Es wird jedoch auch gezeigt: Das Leben ist eineinmaliger Glücksfall. Aber Glück gelingt nur zwischen den Krisen. Und immer ist der Liebe zu wenig.

Manches sei autobiografisch, gestand der Autor in einem Interview. Die erste Romanfassung stammt aus dem Jahre 1957 in der DDR und blieb unveröffentlicht. Nun, nach halbem Jahrhundert, diese Neufassung.