Edwin Kratschmer: Fetzen
Roman
UND-Verlag Stadtroda 2017. 228 Seiten. 24.90 EUR, ISBN 978-3-927437-58-6

Ein Roman über die Demenz und die Entmündigung eines Intellektuellen

„Fetzen“ ist Kratschmers siebentes Buch der Roman-Reihe „Die zehn Todsünden“. Es handelt sich hierbei um das zu Fetzen gerissene Tagebuch eines 88-jährigen dementen Ästhetikprofessors, der zwecks Entmündigung begutachtet werden soll. Kratschmer, selbst promovierter Psychologe, schrieb dieses Skript in seinem 87. Lebensjahr nach wahren Begebenheiten. Vielleicht ist solches Thema überhaupt nur von einem Hochbetagten glaubwürdig zu bewältigen.
Kratschmer lebt seit seinem Schlaganfall 2015 bis zum Tod seiner Frau in Saalfeld. Kaum einer kennt ihn im Viertel. Und wenn der gebückte alte Mann mit Gehstock und am Arm seiner Tochter durch das abgelegene Saalfelder Wohnviertel geht, ahnt wohl niemand, dass der soeben ein Buch zum Thema Luxuria (Wollust) abgeschlossen hat, den Abgesang auf einen bürgerlichen Intellektuellen, der sich – wie weiland ein Ofterdingen auf vergeblicher Suche nach der „Blauen Blume“ – arg lädiert durch sein Jahrhundert geschlagen und lebenslang von mîn Grêt geträumt, dem unerfüllbaren Objekt seiner Liebe, die er nur illegal ausleben darf. Dieser Wunschtraum überspannt als Großmetapher die Handlung seines Lebens von der Kindheit bis zum Tod. Ein aufregendes Gedankenpuzzle um die Biografie eines intellektuellen Mitläufers entrollt sich, der Utopien hinterherlief und Erfüllung nicht finden konnte.
Dabei hat Kratschmer ein Dutzend Bücher geschrieben, die der UND-Verlag Stadtroda in den letzten zehn Jahren herausgebracht hat. Sie tragen Titel wie „Blaurausch“, „Siebenschlaf“, „Wahnwald“, „Schattentanz“ und „Tintentage“. Für eine kleine eingeschworene Lesergemeinde gelten sie als heiße Tipps. Nein, Lesungen mache er längst nicht mehr, sagt er mit leiser, brüchiger Stimme. Öffentlichkeit und Korpsgeist gehörten nimmer zu seinem Leben. Im Hochalter habe man Recht auf Rückzug.
So ist er zu Außenseiter im Literaturbetrieb geworden, obzwar er doch ein Jahrzehnt lang als Universitätsprofessor Neueste Deutsche Literatur gelehrt und Kurator der Internationalen Jenaer Poetik-Vorlesungen gewesen ist. Was er von der Literatur halte? Die Welt käme ganz gut ohne sie zurecht, sagt er und ist umgeben von Tausenden von Büchern. Und sitzt und schreibt und schreibt („Kater schnurrt, Krähe krächzt und ich schreibe!“), obwohl er mit dem Computer ohne Hilfe längst nimmer zurechtkommt. Und macht sich dabei zum Anwalt der alten, dementen Leute, die ihn wohl kaum mehr lesen können, während ihn die noch jüngeren in ihrer Lebenshektik kaum begreifen werden.
Dann verfolgen wir die letzten Lebenstage eines hochbetagten Professors mittels seines ver-rückten, zerstückten und geschnetzelten Gedanken- und Erinnerungsstroms, der zwischen scharfer Hochintelligenz und verblüffender Unlogik schweift und entgleist. Die authentische Tragödie einer Persönlichkeitsauflösung zwischen Glück und Verzweiflung. Leider keine Fiktion, fügt Kratschmer hinzu, sondern wahr wie das Leben. Sein Motto „Dichter, lass fahrn Berechnung und Zier. Die Abgründ hol hervür!“ erinnert an Dantes Himmel- und Höllevisionen und an die Gnade und den Terror des Alterns. Man sollte überhaupt Bücher nur schreiben, sagt er, um Dinge zu sagen, die man niemandem anzuvertrauen wage. Kam nicht ein Tolstoi am Lebensende ganz und gar zu der Erkenntnis, dass die letzten Monate im Leben bedeutender sein könnten als das ganze Leben zuvor? Und Kratschmer behauptet: Mit dem Wissen um den Tod setze überhaupt erst seelische Reife ein und sei dann fortan Begleiter jeder Regung. Ohne dieses permanente Bassgeleit, dem Raptus Melancolicus – wie trostlos wäre da die Kunst!

Kurze Inhaltsangabe: Der Roman ist die tabulose Lebensbeichte von einer lebenslänglichen großen Liebe, aber auch über die hochnotpeinliche Selbstbefragung zu einem fortdauernden Verbrechen; über die Not des Schreibens, über das Fremdsein im eigenen Körper, über das unaufhaltsame Fortschreiten einer Demenz, über eine Entmündigung im Hochalter, über das Leben in einer Diktatur.
Adam Klein, Psychologe, Ästhetikprofessor und Schriftsteller, 88, Single, reflektiert zunehmend verworrener über sein Leben. Er zerreißt schließlich seine letzten Aufzeichnungen und stürzt sich mit seinem goldenen Mercedes in den Tod.

Intention: Wie Ofterdingen auf vergeblicher Suche nach der blauen Blume, so berichtet ein Klein-Adam, Ästhetikprofessor, 88, dement und entmündigt, von seiner lebenslangen Sehn-Sucht nach mîn Grêt, dem Objekt seiner unerfüllbaren Begierde, die er nur heimlich, illegal und ruchloserweis ausleben darf. Diese Sehnsucht überspannt als Großmetapher die Handlung des Romans von einer Kindheit bis zum Tod.
Es entstand als kaleidoskophaft dichtes Textgewebe die (Auto-)Biografie eines Intellektuellen mit mehreren Diplomen, dessen Kindheit im Kriege, der den aufrechten Gang versuchte, aber immer wieder einknickte und sich als „krummer Hund“ durch sein Jahrhundert wurschtelte und mogelte, ein Jahrhundert der Katastrophen und Diktaturen, in dem er Erfüllung nicht finden konnte. So mimte und schwindelte er sich – unterm Bett die Leichen – laissez faire durchs Leben, bis ihm Demenz gnädig Befreiung bot und er sein Manuskript zerfetzte, weil ihm seine Selbstoffenbarungen zu peinlich wurden.
Das macht den Protagonisten zu einer Symbolfigur für eine immer wieder missbrauchbare Intelligenz, die zuzeiten zwar schäumt, schließlich aber impotent verlöscht: die tragische Figur des intellektuellen Mitläufers.

Identität: Die Person des Adam Klein (Name verändert) verdankt der Autor den ungeordneten autobiografischen Notizen eines kürzlich im Alter von 88 Jahren verstorbenen Schulfreundes, eines Universitätsprofessors, der seine Aufzeichnungen dem Autor mit dem Hinweis übergab: „Mach was draus!“ Das Erzählgerüst entspricht dieser der Wirklichkeit entlehnten Faktenlage. Alles andere ist romaneske Fiktion. Die übrigen Personen sind frei nachempfunden.

Handlung: Namenloser Single, 88, wird einer Gutachterin vorgeführt und soll wegen Paranoia bzw. Telefonterrors auf Demenz untersucht und schließlich entmündigt werden. Da erfindet er sich aus Selbstschutz und als Phantom den Ästhetikprofessor Adam Klein und beauftragt ihn, seine Lebensgeschichte in Ich-Form zu erzählen.
Doch A.K. gerät das Manuskript zu desaströser Lebensbeichte. Schließlich zerreißt er es. Wieder zusammengesetzt ergibt es eine hochnotpeinliche Selbstanklage.

Aufbau: Die klammernden Kapitel ENDWÄRTS und ABSPANN berichten die Einlieferung des dementen A.K. als Notfall ins Krankenhaus bis zu dessen Entlassung (=Entmündigung). Dazwischen liegen nur wenige Tage, in denen sich A.K. fetzenhaft (FETZEN I bis V) seines Lebens erinnert.

Struktur: Marathongedankenlauf als Facettenroman, Geflecht von monologischen Assoziations- (Gedanken-, Erinnerungs-, Gefühls-) und Reflexions-„Fetzen“ in Ich-Form. Mit Fetzen sind sowohl die Fetzen aus dem Müll als auch deren Gedanken-, Geschichten- und Geschichtsfetzen gemeint.
Die Haupttexte – FETZEN I bis V – bestehen in weiten Teilen aus frei assoziierenden Selbstgesprächen des Protagonisten, die zuweilen zu einseitigen Dialogen vor allem mit mîn Grêt gerinnen, seiner verunglückten Liebe. Weitere Personen schwimmen gleichsam als „Sprechblasen“ im Erinnerungsstrom. Das geschieht in den historischen Kulissen von 1943, um 1953, nach 1989 und 2017.
Die Reise gerät zu abenteuerlicher Fahrt auf abseitigen Gedankenrouten und durch die Denklabyrinthe eines eigensinnigen Intellektuellen. Dabei werden essayistisch Themen angesprochen wie: vom Leben in Zwängen, von der Persönlichkeitsspaltung als gesellschaftsrelevante Praxis, von der Hinfälligkeit des Körpers und der Auslöschung des Geistes als finale Lebenserfahrungen sowie von der heilsamen Pathologie des Kunstmachens. Frei flanieren die Assoziationen. Dazwischen schonungslos realistische Darstellungen. Das interpersonell schizophrene Hin und Her besonders zwischen den Klammertexten ENDWÄRTS und ABSPANN soll die Frage offen lassen, ob es sich im Roman um eine Offenbarung mit Selbstanzeige oder um ein fiktives seniles Fantasieprodukt handelt.

Handlungsorte: Böhmen, Ostdeutschland und Bundesrepublik.