Klaus Doderer
Hunderttausend Gedichte
Aus: Christel Fenk (Red.): Edwin Kratschmer – Wärmestrom in bleierner Zeit. Collegium Europaeum Jenense, Jena, 2006, S. 44-46.
1996 hat das Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität in Jena eine Sammlung von etwa 100.000 Texten von 15.000 jugendlichen Autoren geschenkt bekommen. Die Gedichte sind zwischen 1964 und 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik geschrieben und von Edwin und Margret Kratschmer und Hannes Würtz im Laufe der Jahre gesammelt worden.
Die Übergabe war recht feierlich. Das hatte mehrere Gründe. Zum ersten ist eine solche Gedichtsammlung, zu der noch 4.000 Briefe von Jugendlichen und den sie begutachtenden und edierenden Sammlern, 200 Gedichtanthologien, einschlägige Zeitschriftenjahrgänge und 50 „Buchdebüts“ der in der Sammlung vertretenen Autoren gehören, ein einmaliger Schatz. Man bedenke, dass diese Bestände über mehr als zweieinhalb Jahrzehnte hinweg Stimmen und Stimmungen von jungen Menschen in der sozialistischen Gesellschaft festgehalten haben. Die heute zum Teil vergilbten Papiere sind sorgfältig aufbewahrt worden, nun chronologisch geordnet, mit alphabetischem Register versehen und in Zukunft dank dieser systematischen Gliederung nach den verschiedensten Gesichtspunkten zu befragen.
Die Übergabe war auch deshalb nicht ohne Glanz, weil im Anschluss an einen ins Grundsätzliche ausholenden Vortrag von Edwin Kratschmer eine in coram publico vorgenommene eigenhändige Eintragung der Stifter in das Jahrhunderte alte Ehrenbuch der Jenenser Universität stattfand. Nicht nur das öffentliche Fernsehen, sondern auch ehemalige in der Sammlung manifeste „junge Dichter“ (einer der anwesenden ist jetzt Parlamentarier und sitzt dem Kulturpolitischen Ausschuss des Landes vor) waren dabei. Der Tag dürfte wohl auch ein Akt der Wiedergutmachung gewesen sein, denn Edwin Kratschmer, Lehrer in Thüringen, musste 1983 aus dem Staatsdienst gehen. Man hatte ihm eine demora-lisierende Einflussnahme bei der poetologischen Beratung junger Menschen unterstellt. Unter anderem gehörten Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow zu seinen Verteidigern. Nach der Wende wurde Kratschmer Gymna-sialdirektor (1990) und Lehrbeauftragter an der Universität Jena (1992)...
Meines Wissens gibt es in Deutschland an keinem Ort eine vergleichbare Sammlung. Das Gebiet der Kinder- und Jugendlyrik, sei es der Bereich der Gedichte von oder der für Jungen und Mädchen, ist überhaupt noch wenig in das Gesichtsfeld der Wissenschaft gerückt. Nun bietet sich das Archiv Jugendlyrik der DDR 1964–1990 an, zur Quelle zu-künftiger allgemeiner Erkenntnisse über das Vermögen von jungen Menschen zu werden, wie sie Gedanken und Gefühle in lyrischer Form zum Ausdruck bringen. Es bietet sich aber auch im Besonderen an nachzuforschen, wie die Jugend „damals“ in dem anderen Teil Deutschlands, jenseits Mauer und Zonengrenze, empfunden hat, wenn sie ihre eigenen Innenräume evokativ auslotete. Wie und was haben die damals aufgewachsenen Jahrgänge dem Papier anvertraut, was hat sie bewegt?
Das Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität in Jena hat sich einen wertvollen Schatz an Land gezogen. Das Archiv steht – unter Berücksichtigung von Datenschutz und Urheberrecht – der wissen-schaftlichen Forschung zur Nutzung offen. Die Bestände sind von besonderem Interesse für die Literaturwissenschaft, aber auch für die Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft.
Friedhelm Berger
Hunderttausend Texte
Aus: Gespräch mit Prof. Dr. Edwin Kratschmer über die Sammlung Jugendlyrik
Palmbaum, Literarisches Journal, quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2012/1, S.129-148.
Mit der Sammlung Jugendlyrik liegt ein Lebenswerk vor, das zugleich das Werk vieler ist, vor allem auch das der in der Sammlung vertretenen Autoren. Was war der Auslöser, wie kam es zu der einzigartigen Sammlung?
Am Anfang stand eine tiefe Erschütterung: Peter Beitlich, ein Schüler, 17 Jahre alt, war 1965 im Grenzfluss Havel auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen. Seine Hinterlassenschaft bestand aus 13 Gedichten – eine ganz schmale aber umso alarmierendere Lebensspur. Für mich eine jähe Schreckstunde, zugleich aber auch eine Sternstunde mit der Erfahrung, dass ein paar Schülerverse Hochdruckventil sein können, Notsignal, Todesschrei. Wir saßen nun halbe Nächte zusammen, zwei, drei Schüler stießen hinzu, wir sprachen über das Schreiben, lasen, diskutierten, verwarfen. So waren schließlich 23 Texte zusammengekommen, die wir öffentlich machen wollten.
Wir sprechen von DDR-Zeiten…
Der Kulturpalast Unterwellenborn war damals einer der Austragungsorte der 6. Arbeiterfestspiele. Dort boten wir unser Bändchen an, das wir unter dem uns selbst Mut machenden Titel „Und Mut gehört zum Wort“ herausbrachten, was jedoch sofort als Provokation aufgefasst wurde. In meiner Stasi-Akte konnte ich dreißig Jahre später darüber nachlesen:
„Die Gedichte ergeben [...] kein typisches Bild unserer Jugend, da das Leben in der sozialistischen Gesellschaft in keiner Weise erwähnt wird. Es sind keinerlei kollektive Beziehungen gestaltet worden. Es muß festgestellt werden, daß K. seinem Erziehungsauftrag als Lehrer der sozialistischen Schule nicht gerecht geworden ist.“
Wie haben Sie damals reagiert? Motto „Jetzt erst recht?“
Jede Aktion fordert zu Re-Aktionen heraus. Wir, meine Frau und ich, begannen nun über Aufrufe in Presse, Funk und Fernsehen in der ganzen Republik Gedichte junger Leute zu sammeln. Wir wollten wissen: War das, was mir da in meiner Klasse passiert ist, nur Unterwellenborn-spezifisch oder war es jugendtypisch, DDR-spezifisch gar? So war es 1967 zur Veröffentlichung der nächsten Anthologie gekommen, die wir „Offene Fenster“ nannten. Sie erschien bis 1989 in acht Folgen, Auswahlen aus etwa hunderttausend Texten junger Leute zwischen 15 und 25 Jahren.
Und die Reaktionen darauf?
Die ganze Skala – von höchster Anerkennung, Nichtbeachtung bis Totalverriss. Ich zitiere aus meiner Stasi-Akte:
„Mit der Herausgabe seiner Anthologien steht K. in gewisser Gegensätzlichkeit zum Bitterfelder Weg. Den sozialistischen Realismus betrachtet er als starke Einengung des künstlerischen Wirkens. [...] Er ist in der Lage, junge Menschen negativ zu beeinflussen. [...] Er ist einer der geistigen Urväter derer, die mit der Parteiführung unseres Staates nicht einverstanden sind. […] Er vertritt eindeutig bürgerliche Auffassungen. […] Es ist unverständlich, wie so etwas veröffentlicht werden kann. Ich rate, diese Anthologie kritisch zu analysieren. [...] Das alles zeigt, daß die ideologische Diversion, die von den ‚Offenen Fenstern’ ausgeht, sehr ernst zu nehmen und nicht ungefährlicher ist als die Biermanns.“
In der DDR schreiben und publizieren hieß: mit der Zensur leben…
…ihre momentanen Intentionen kennen, sie nutzen oder unterlaufen. Dabei war der Begriff Zensur selber ein Tabu-Wort. Jeder wusste, dass es sie in der Tat und in vielerlei Formen gab, dennoch wurde sie hartnäckig bestritten. Zudem gab es das besonders heimtückische Regulativ Selbstzensur. Sie war die Schranke im eignen Kopf als Selbstüberwachung, Selbstbeschneidung, Selbstkastration, Selbstverstümmelung – oder als „Selbstdisziplin“ verhüllend ein Akt von „Bewusstsein“. Kritische Autoren suchten nach Tarnformen und -farben, nach Versteckstrategien, und oft genug ging die Schizophrenie um, die Janusköpfigkeit und Spaltzüngigkeit.
Derart erweisen sich auch Anthologien als Wechselbälge vor Kafkaschem Hintergrund.
Unsere Courage als Herausgeber, so gering sie auch sein mochte, erwies sich immer noch als zu große Illusion. Eine „Offene Fenster“-Anthologie mit den durch die verschiedenen Zensuren liquidierten Texten würde das Ausmaß und den Charakter der Unterdrückung anzeigen. Das Publizieren im Realsozialismus war zu jeder Zeit eine höchst öffentliche, argushaft beargwöhnte, ideologisch-sachkundig observierte Angelegenheit, oft existenzgefährdend, manchmal lebensgefährlich für den Autor, sofern er ein zugestandenes Maß an Kritik überschritt.
Doch haben gerade auch Schriftsteller wesentlich dazu beigetragen, in der DDR ein geistiges Klima zu schaffen, in dem Gesellschafts- und Systemkritik zunehmend rückhaltloser artikuliert werden konnte.
Kunst – und in unserem Falle die Lyrik – vermag vermittels Metaphorik auf versteckte, äsopische Weise die Dinge anders auszusprechen als Klartexte. Ihren Aussagen ist oft nur schwer beizukommen. So kann in einer Diktatur gerade die Lyrik zu beredter und deshalb inoffiziell besonders beargwöhnter Subkultur werden. In Aktensprache: „Lyrik ist für K. ein Mittel, versteckt Unwahrheiten zu sagen, die sonst nicht ausgesprochen werden.“
Eine „Poetogenese“, die zum ersten Mal Prozesse untersuchte, wie sich die poetische Entwicklung vom „Stammelalter“ bis zur eventuellen Ankunft in der Poesie vollzieht. Das Collegium Europaeum Jenense hat diese Erkenntnisse als Aufsatz, der den bezeichnenden Titel „Von der Unschuld der Plagiate“ trägt, zu Ihrem 75. Geburtstag veröffentlicht. Darin belegen Sie, dass jeder siebente Jugendliche zwischen seinem 15. und 23. Lebensjahr irgendwann Verse schreibt.
In der Tat ist das ein Heer von Skribenten! Freilich trügt solch bloße Statistik, sobald man damit die Frage nach der Qualität dieser Texte verbindet; denn das „Dichten ist eine komplizierte Produktion“ (Majakowski) und ein Reim macht noch lange kein Gedicht. Wer viele Jugendgedichte kennt, weiß, dass von fünfzig Schreibenden nur einer durch überdurchschnittliche Leistungen aufhorchen lässt. In meinem Aufsatz „Von der Unschuld der Plagiate“, der die Ergebnisse meiner Dissertation von 1969 zusammenführt, versuche ich die Entwicklung von den Schreibanfängen bis zu einer eventuellen Ankunft in der Hochliteratur mittels einer Längsschnittstudie aufzuhellen, nach Parametern und Signifikanzen zu fahnden und Talentmanifesta zu erkennen. Denn nicht das Plündern und Plagiieren ist von Übel, sondern eine damit verbundene Leerheit und ein Verharren im Dilettantismus.
Dabei bildet das Plagiieren doch ein gar wichtiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur Reife…
Man kann da nur mit Brecht hoffen, dass der potenzielle Autor von Anfang an auf hochkarätige Vorbilder und gute Poetiken stößt.
Welche Dichter – neben den obligatorischen Lesebuchgeistern – übten denn auf junge DDR-Autoren besondere Vorbildwirkung aus?
In der Regel werden „Poetiken" erst nach dem 18. Lebensjahr interessant. Man „schlürft“ dann oft einen Autor. In unserer Sammlung fanden sich – neben den obligaten Lesebuchpoeten – aber auch Bezüge zu Hölderlin, Whitman, Rilke, Trakl, Heym, Majakowski, Brecht, Bobrowski, Bukowski, Jandl, Braun, Kunze, zu den Expressionisten und Surrealisten, aber auch zur Romantik. Man ist dann trunken von dessen/deren Sprache, nutzt unverhohlen Bilder nach und gelangt dabei u. U. sich selbst ein Stück näher – nun aber um eine (Formen-)Welt reicher.
Auf Ihre Anregung hin kam es 1970 zum Zentralen Poetenseminar im Schweriner Schloss.
Die breite Korrespondenz mit schreibenden Jugendlichen und die packenweise Zusendung von Texten überforderte zeitweise unser Familienbüro. Wir erwogen, die begabtesten Autoren zu einer Schreibwerkstatt in die Jugendherberge Schwarzburg einzuladen, sie auf diese Weise zusammenzuführen und mit ihnen über das Schreiben zu sprechen. Aber dieser Weg war privat nicht möglich. Wir mussten offiziell den Jugendverband informieren, denn Paragrafen wie ‚feindliche Gruppenbildung’ und ‚Zusammenrottung’ verhinderten alle amtlich nicht genehmigten Treffen. .
Inzwischen sind weit über hundert der in der Sammlung vertretenen jugendlichen Schreiber mit eigenen Büchern an die Öffentlichkeit getreten...
…oder haben sich darüber hinaus in der Kulturwelt einen Namen gemacht: Gerd Adloff, Ingrid Annel, Ulf Annel, Fritz Martin Barber, Holger Benkel, Matthias Biskupek, Thomas Böhme, Reiner Bonack, Hans Brinkmann, Stefan Döring, Gabriele Eckart, Christoph Eisenhuth, Siegmar Faust, Jürgen Fuchs, Peter Geist, Hubertus Giebe, Werner Greiling, Durs Grünbein, Kerstin Hensel, Hans-Werner Honert, Johannes Jansen, Annerose Kirchner, Bärbel Klässner, Uwe Kolbe, Maik Lippert, Thomas Luthardt, Frank-Wolf Matthies, Uta Mauersberger, Steffen Mensching, Andreas Montag, Christa Moog, Siegfried Nucke, Kristian Pech, Richard Pietraß, Bernd Rachowski, Lutz Rathenow, Siegfried Reiprich, Regina Röhner, René Römer, Thomas Rosenlöcher, Michael Sallmann, Udo Scheer, Hubert Schirneck, Jutta Schlott, Kathrin Schmidt, Sonja Schüler-Schubert, Ingo Schulze, Hans-Dieter Schütt, Klaus-Peter Schwarz, Lutz Seiler, Jens Sparschuh, Benjamin Stein, Holger Teschke, Holger Uske, Bernd Wagner, Mathias Wedel, Norbert Weiß, Hans-Eckardt Wenzel, Petra Werner undundund...
Prof. Klaus Doderer, Gründungsdirektor des Instituts für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt/Main, hat Ihre Sammlung sowohl einen wichtigen Beitrag für unser nationales Gedächtnis als auch für die wissenschaftliche Erforschung des Problemfaktors Jugendgedicht genannt.
Das Schreiben eines Gedichtes erfordert neben allgemeinkünstlerischen Voraussetzungen wie reflexive Sensibilität, Kreativität und Kunstverstand vor allem sprachstilistische Fähigkeiten und eine poetische Begabung. Dennoch gilt selbst noch vom primitivsten Versgebrech: Es reflektiert Entwicklung und Persönlichkeitsproblematik. Denn wer schreibt, reguliert ein Bedürfnis. Derart liefern gerade Jugendgedichte oft unverblümt Aufschlüsse über die Bedürfnisse, Gedanken und Einstellungen der Schreiber. Als Katalysator – Gedankenartikulator, Problemtransporter und Stimmungsträger – haben Jugendgedichte zumindest den Wert von Dokumenten. Wer schreibt, offeriert aber zudem sein literarisches Niveau. Dabei ist Jugendlichen die Aussage oft wichtiger als deren Formqualität.
Das klingt alles sehr nach Psychologie.
Das kreative Schreiben ist ja zuerst einmal auch ein psychischer Vorgang. Jeder Text ist ein ästhetisches Superzeichen mit vielen Variablen. In jedem Alter macht man andere Eroberungen. Und Jungen schreiben anders als Mädchen.
In welchem Alter kündigen sich Hochbegabungen an?
Wir wissen von Goethe, Schiller, Hölderlin, Puschkin, Rimbaud, Hofmannsthal, Brecht, dass sie schon mit 16 poetisch erwacht waren; Fleming und Gryphius waren mit 21 schon Laureaten.
Und was treibt sie in der Regel zum Schreiben?
Ich konnte folgende Motive erkennen, die sich oft gegenseitig bedingen: eben das o. g. nachahmende Spiel, dann aber die Lust an Sprache, Lautung, Rhythmus, eine besondere Kommunikationsabsicht, das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, Belehrung und Kritik, der Drang nach Größe, nach Selbst- oder Weltorientierung, nach Weltflucht oder die Erfüllung einer Ventil- oder SOS-Funktion und schließlich die unbändige Lust am künstlerischen Ge-stalten. Doch das Kunst-Machen setzt ein bestimmtes Kunst-Wissen und Kunst-Wollen voraus. In Einzelfällen beginnt das um das 15./16. Lebensjahr. Poetische Begabung kündigt sich vor allem als übermäßiges Interesse an Fremd-Lyrik an. Es verweist dann auf einen hohen Begabungspegel und den ernsthaften Vorsatz, eine „Poetenlaufbahn" einschlagen zu wollen.
Wie wird der Schatz dieser 100.000 Gedichte umfassenden Sammlung genutzt?
Bei einer wissenschaftlichen Nutzung ist das Bundesdatenschutzgesetz sowie die Verordnung über die Benutzung der Staatsarchive und das Urheberrechtsgesetz zu beachten. Offiziell freigegeben wird das Archiv erst im Jahre 2100!