Edwin Kratschmer: Jäher Dichter Beitlich. Texte und Protokolle
edition mk, 2004, 48 Seiten

Er lebte vierzehn Gedichte lang vom 29. August 1947 bis zum 7. Juli 1965. Er hatte den Habitus eines Vierzehnjährigen. Als Umsiedlerkind aufgewachsen in Notquartieren, sozial deklassiertes und heimatloses Weltkind, sehnte er sich nach einem Schneckenhaus. Die Schale schien rau und er kaum ansprechbar, widerborstig bis zäh. Das sommersprossige Gesicht war zuweilen voller Schrammen, die oberen Schneidezähne waren abgebrochen – von einem Sprung von der Eisenbahnbrücke vor eine Lokomotive, wie er gestand.
Er hatte den jahrelangen, qualvollen Krebstod seiner Mutter durchlebt, zu der er ein inniges Verhältnis hatte. .So fand der in seiner Not zum Ventil Sprache, deren orthographisches Regelsystem er jedoch nicht durchschaute. Mit seinen seelischen Lädierungen, Verknotungen und Versehrungen floh er in Texte, reflektierte in ihnen seine Konflikte, sandte verzweifelt SOS-Zeichen aus, setzte Alarmsignale. Die Schulhefte waren gespickt mit Karikaturen und Sprachsplittern. Die meisten Lehrer hielten ihn für einen Versager und forderten erbarmungslos Sanktionen bis zum Schulverweis. Da rebellierte und resignierte er:

Öffne ich die Augen einen Spalt / ist meine Welt / freudlos hässlich kalt.

Er träumte vom Tod, und es entstanden Texte wie 'Ich liebe in Bäumen zu lesen' und 'An die Älteren'. Bittgesuche pur.
Als er mir eines Tages seine Texte auf den Lehrertisch legte, schien mir, auf eine Goldader der Erkenntnis gestoßen zu sein:

bäume haben ihr wesen / eine unruhvolle physiognomie / zwischen den zeilen steht zu lesen / eine steile biografie.

Geblieben ist ein Nachlass, bestehend lediglich aus 14 Texten.

-  Edwin Kratschmer (Hg.): Und Mut gehört zum Wort. Schüler schreiben. Erste Versuche. Unterwellenborn 1964
-  Hannes Würtz in: Junge Welt v. 1. 4. 1965 und Adolf Endler in: Neue Deutsche Literatur. Berlin 2/1965, S. 157 ff.
-  Edwin Kratschmer (Hg.): 
Offene Fenster. Schülergedichte. Berlin 1967