Edwin Kratschmer: LebensSpur
Vierzig Gedichte aus vierzig Jahren
edition mk, 1999, 48 Seiten

Diese poetischen Texte aus vierzig Jahren reflektieren Gedanken und Empfindungen aus einem Erlebnis- und Span-nungsraum Diktatur, ohne den sie nicht denkbar wären:
"Du schreibst – und schüttest dich hin. Sich hinschütten, Herz und Hirn, Träume und Triebe, Gift und Galle, den ganzen vergorenen Sud. Aber der Mensch braucht einen Abtritt, wo er einmal alles loswerden kann, sonst zerreißt es ihn. Es muss etwas geben, wo er sich ausstülpen kann. Oder er braucht ein Ohr, ein Phantom Ohr zuwenigst, etwas, das gnädig so tut, als wärs ein Ohr."

Aus: LebensSpur

ich Nachkomme derer woauchimmer Davongekommener Hinterbliebener ungezählter Exekutionen hinterblieben im Teu-toburger Wald auf den Katalaunischen Feldern bei Verden bei Lützen bei Königgrätz bei Austerlitz bei Verdun bei Stalin-grad in Pschan ich Erbe der Million Jahre vor mir Nachkomme von Kannibalen Mordaffen Raufbolden Totschlägern Schlächtern Scharfrichtern wieviel Mandrillblut kreist in mir und was wasnurwas um Himmels willen was wenn diese er-schröckliche Personnage zu der ich jahrelang unterwegs bin nichts weiter ist als die Versammlung meiner Mütter und Väter bis ins siebte Glied tragen sie nicht alle deren Namen was wenn das alles nur ich selber bin alles Reden und Schreiben nur eine Expedition in den Dschungel der ich selber bin was wenn ich immer nur mir selbst begegne auch wenn ich über die sieben Todsünden schreib oder über die sieben Himmel oder die sieben Höllen oder die sieben Weltwunder oder die sieben Dämonen oder die sieben Plagen oder die sieben Schalen des Zorns oder das siebentorige Theben oder die sieben Zwerge am Ende sind Kain und Abel gar nicht zwei sondern immer nur ich und wie sicher bin ich mir ob der Kannibale in mir nicht schon längst auf der Lauer liegt und nach einem Mahle giert
1964