Edwin Kratschmer: Tintentage
Zehn ausgewählte Erzählstücke

zum 85 Geburtstag herausgegeben und mit einem Nachwort von Maren Kratschmer-Kroneck

UND-Verlag Stadtroda 2016. 200 Seiten, 24.90 Eur. ISBN 978-3-927437-57-9

 

Aus dem Nachwort von Maren Kratschmer-Kroneck

Seit seinem Infarkt, der meinen Vater, Edwin Kratschmer, im Alter von 84 Jahren ereilte, während er am Schlusskapitel zum Roman „Schattentanz“ schrieb, wohnen meine Eltern bei mir. Als Tochter erlebe ich nun intensiv deren „Hinübergleiten“ ins Hochalter. Bei Gesprächen auf den kurzen täglichen Spaziergängen erstand mir, die ich meinen Vater mit seinen zum Teil albtraumhaften Romanen und Erzählungen doch zu kennen glaubte, überraschend ein auch neues Vater-Bild. Da wurde ich zu seinem Eckermann und schrieb auf, was er von immer neuen Schreibeplänen berichtete, wo er doch weiß, dass alle kreativen Vorhaben kaum mehr eine Realisierungschance haben.

Auffallend oft ist dabei von seinem Lehrer-Dasein die Rede. War er doch sechs Jahrzehnte lang vier Staatsbürgerschaften hindurch Schüler an acht Schulen und Lehrer an neun Einrichtungen – vom Dorfschullehrer bis zum Universitätsprofessor. Daher die Eingebung, seine bisherigen Werke zu durchforsten und jene Textstücke zu exzerpieren, die Schule und Lehrer-Leben thematisieren. Denn immer wieder gerieten dem schreibenden Lehrer Kratschmer Lehrer zu Objekt. Seien Lehrer doch im Allgemeinen wie im Besonderen seit Denkzeiten beliebte Zielfigur. Habe nicht jedermann in bestem Entwicklungsalter recht unterschiedliche Erfahrungen mit ihr gemacht? Seien Schulen nicht geradezu Tatorte, an denen Über-Ichs generationsweise Lebensläufe trimmten oder kappten? Ist der Studienrat hinterm Katheder nicht oft ein potenzieller Gewalttäter, Kerkermeister, Exekutor mit Pensionsanspruch? Sein Instrument: die Zensurliste als Korrumptiv? Wie viele Versehrungen, Verletzungen, Zerstörungen passierten da. (Natürlich gebe es auch Fälle in Fülle von verdienstvollen, geachteten Lehrern: „Lasst uns ein Loblied singen auf den Lehrer Läpple!“ und keiner werfe einen Stein.)

So hat der Berufsstand des Lehrers seinen Nimbus und sein Prestige, und er wird, sofern Sympathie nicht zustande gekommen ist, boshaft und bissig abgestraft, u. a. als dienstleistender Beamter, „Lehrkörper“ und „Bildungsagent“, der jungen Menschen seine Natur raubt und sie dafür mit zuweilen zweifelhaftem Wissen und zu Diktaturzeiten auch mit Ideologie vollstopft, während er selber rapportpflichtig in enger Zwangsjacke steckt. So lässt Kratschmer seinen Lehrer Kraut fragen: Wie zurecht liquidiere jedes neue Gewaltregime die bisherigen Vormänner, Vorbeter und Einpeitscher?

Und seien Lehrer nicht de facto Vorturner und Multiplikatoren, die Schülern und Studenten Opportunität abverlangten? Man könne solche Täterschaft nicht einfach bagatellisieren, sie sitze oft lebenslang fest. Am Ende ganze Generationen totalitär geschädigter Nachfahren.

Und gabs nicht seit Platon und Wieland und Hölderlin immer wieder schreibende Lehrer?

Aber Schulgeschichten habe er eigentlich nie im Sinn gehabt, sagt Kratschmer, allenfalls seien ein paar Flutlichter ins Schulmilieu gelangt, weil der Mensch ohne Lehrer nun mal nicht auskomme. Und manchmal habe man ihnen im Positiven wie im Negativen viel zu verdanken.

Es fällt auf, dass mehrere der Lehrerfiguren auch Maler oder Schriftsteller in einem von „Diensten“ überwachten System sind, zum Teil gefangen in übergestülpten Kollektiven mit damit verbundenen Zurichtungen, und Kratschmer rebelliert vehement dagegen, um jedoch im nächsten Augenblick schon eingestehen zu müssen, dass sein Ich auch bloß ein Kollektivum ist, an dem Zeit und Gesellschaft mitgestrickt. Er, der schreibende Lehrer K., also auch nur ein „Zugerichteter“, verhinderter Exilant gar, der Asyl nicht zu finden vermocht und daher als Außenseiter in Kunst und Sprache eingehaust.

Das waren u. a. Themen dieser Spaziergänge. Vor allem aber war es das Schreiben. Dieses Warum muss ich eigentlich schreiben? Warum so und nicht anders? Wie wird man mit seinen Widersprüchen fertig? Wie mit den Widersprüchen seiner Zeit? Mit dem unbarmherzig fortschreitenden Alter? Und immer wieder: Wie solldarfmuss man in Diktaturen lehren? Hat Kratschmer als promovierter Psychologe doch oft griffigeren Zugang zu menschlichen Problemen. Obzwar er jener guten alten empirischen Ganzheitspsychologie nachtrauert, die auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen beruhte (Wundt, Freud, Spranger, Kretschmer) und die nun längst einer arithmetischen „Gerätepsychologie“ weichen musste, sodass kaum noch wissenschaftliche Aussagen über das ganze (ungeheure) Menschenwesen getroffen, dafür aber Ergebnisse über Detailerscheinungen exakt vermessen werden können. Der komplexe Mensch aber – was immer das auch sei – falle ihr durchs Sieb. Vielleicht auch daher Kratschmers zunehmende Tendenz, vom denunzierenden Er und anonymisierenden Wir zum geständigen Erzähler-Ich zu wechseln, wohl mit der lauteren Absicht, zu möglichst enger Autor-Leser-Identität zu gelangen. Denn das Leser-Ich wird gezwungen, ICH zu lesen und dadurch mit dem Autor-Ich zu kongruieren.

Die zehn Erzählstücke, ausgewählt aus Edwin Kratschmers Prosawerken, werfen teils bizarre Lichter auf die Welt von „Tintentagen“. Ein ehemaliger Lehrer plaudert aus der Schule. Er ist prallvoll von Erlebtem. Und er ist Sokrates‘ Jünger und provoziert gern mit These – Antithese – Ratlosigkeit: viele Probleme und keine Lösungen. Und er reißt dabei Masken von Tabus, sinniert und grübelt über das Lehren und Schreiben, über die Kunst, die Schule, Faschismus, Vertreibung, über politische und sexuelle Verführbarkeit und über das Altern. Und auch darüber: Wienurwie soll man in einem Abdera lehren, in dem Diktatur einhaust?

Er habe dabei das Wunder und die Grenzen eines Lehrerdaseins erfahren dürfen, so der Autor, habe Beglückendes und Abgründiges kennen gelernt, sei Verführter und Verführer gewesen – doch wer kenne sich da schon aus! –, manches habe sich zu Albträumen geballt und ihn verfolgt bis tief in schlaflose Nacht.