Edwin Kratschmer: Blaurausch
Erzählungen
UND-Verlag Stadtroda 2008. 260 Seiten. 24.90 EUR, ISBN 978-3-927437-31-9

"Blaurausch" ist der Erzählkranz eines 77-Jährigen. Die Texte pflügen tief im Jahrhundertacker. Der Autor gesteht: "Es hat halt aus mir geschrieben, ich weiß nicht einmal ob Kopf oder Bauch." In der Erzählung "Urrichs Vermächtnis", der zweiten im Erzählreigen, beschreibt er den flagranten Konflikt zwischen Wissenschaft und Kunst: Der Rilke-Forscher Urrich muss erkennen, dass er für die Wissenschaft verloren ist, sobald er zu sehr seiner Subjektivität vertraut; der Lohn aber ist seine Ankunft in der Kunst und er erfährt: Jetzt erst ist er reif, sich rückhaltlos in einen Text zu stürzen, sich ohne Selbsterbarmen in ihn fallen zu lassen. Und er fühlt sich Pygmalion und Prometheus werden, Schöpfergott und Spieler, der seine Figuren gnadenlos aufs Schachbrett kippt, das sofort zum Schlachtefeld gerät. Und er prasst in fremden Seelen und häutet sie rücksichtslos. Er treibt die Dinge jäh bis an bitteres Ende. Doch welche Gnade und Un-gnade, in grenzenlos opulenter Fantasie zu weiden! "Und er floss hin und fand zu keinem End." Man kann das als eine Selbstaussage des Autors werten.
Aus solchen Passagen wird auch Kratschmers Hauptproblem erkennbar: Wie kann/soll einer schreiben, der als von der Historie gebranntes Kind lebenslang an seinen Wunden trägt und oft nicht weiter weiß? Und wir können nacherleben, wie das Wort aus ihm herausbricht und zu Literatur aufstylt. Da kann sich der Leser nicht mehr schützen, sobald er sich auf die Texte einlässt. Er gerät unvermutet in den Sog des Mit-, Nach- und Neudenkens. Unter anderem über die Sieben Todsünden, die seit je grassieren und bis ans Ende aller Menschheitstage als "Dämonen menschlicher Leidenschaften" grassieren werden, zumal sie das menschliche Zusammenleben sowohl zu bereichern aber besonders auch zur Hölle zu machen vermögen.

Mit seinen Helden – besser Antihelden – schafft der Autor ein Spektrum von Ich-Möglichkeiten, die er den "Dämonen" aussetzt, die in ihnen hausen und denen sie nicht entgehen können. Und Kratschmer versucht zugleich eine Zustands-beschreibung einer so genannten geistigen Elite, die in der Historie immer wieder versagt. Es sind zumeist Intellektuelle (der "Abgrund Mensch"), die arg verstrickt sind in die Zwänge ihrer Zeit und deren Leben missglückt und fehl gelaufen ist, die verspielt haben, u. a. ein Lehrer – der Autor ist selbst drei Jahrzehnte Lehrer gewesen –, der hinter seinen Erfol-gen mit Schrecken seine Dunkelseiten entdeckt ("Lehrer Läpple"), ein anderer, der von der Vergangenheit eingeholt und zum Informanten wird ("Fimms Ende"), ein Autor, der nach gescheiterter Ehe sein Lebenswerk verbrennt ("Fellers Fluchten"), ein Farbforscher, der in Rausch und Tourette abtaucht ("Blaurausch"), eine Mutter, die sich entsorgen lässt ("Meergang"), ein Künstler, der seinen "Zwilling im Geiste" ans Messer liefert ("Borderline"), ein erfolgreicher Gelehrter, der sich aus der Welt stürzt ("Ikaros").

Derart wird in den zehn albtraumhaften und bestürzend abgründigen Erzählungen das Leben zwiespältiger Existenzen offenbar, in denen zuweilen mehrere Seelen einhausen. Und die Texte lesen sich bald wie Krankenberichte, bald wie Fallstudien mit essayistischen Einschlüssen. Es mag provozieren und aufstören, wie da das Gute zu Bösem kippt und Böses zuweilen zu Heil gerät. Eben das von ständigen Versuchungen und möglichem Scheitern durchwirkte menschliche Leben. Und allenthalben wabert Diktatur. Versteckt und offen. Im Kleinen wie im Großen.